Duderstadt im Ausnahmezustand
Blogserie, Teil 2
Wer aus einer Kleinstadt kommt, kennt das gut: Am Wochenende geht es eher gemächlich zu. Sind die Läden geschlossen, ist der Markt beendet, dann sind die Straßen wie leergefegt. Man zieht sich zurück in die häusliche Idylle, geht abends vielleicht zu Freunden oder ins Kino. Das gilt besonders für graue und trübe Novembertage.
So wäre es sicherlich auch in Duderstadt, einer Kleinstadt im südöstlichen Niedersachsen, nahe der thüringischen Grenze, gewesen. Wenn nicht – ja, wenn nicht plötzlich in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag die DDR-Grenzen offen gewesen wären. Was in einem Ort mit etwa 22.000 Einwohnern ganz unerwartet passierte, warum ein Krisenstab eingerichtet werden musste, um das Wochenende vom 11./12. November 1989 zu managen, das hat heute vor 30 Jahren der Vorstand der Sparkasse Duderstadt in einem Schreiben an den Präsidenten des Niedersächsischen Sparkassen- und Giroverbandes, jetzt Sparkassenverband Niedersachsen, festgehalten.
Mit seiner Situationsbeschreibung bewies der Vorstand historischen Weitblick. Ergänzt mit Schnappschüssen von damals entstand für die Nachwelt ein sehr lebendiges Bild von jenen aufregenden Tagen nach der „Öffnung der DDR-Grenze“.* Doch lesen Sie selbst, wie die Sparkasse mit dem Besucheransturm fertig wurde und schließlich das Begrüßungsgeld in Höhe von 100 D-Mark pro Person professionell zur Auszahlung brachte:
Sehr geehrter Herr Präsident,
es ist uns ein besonderes Anliegen, Sie persönlich darüber zu informieren, daß wir am gerade vergangenen Wochenende aus dem Stand heraus die mit der Geldversorgung der DDR-Bürger zusammenhängenden Fragestellungen mit einem großen Kraftakt in jeder Hinsicht bewältigen konnten. Am Freitag haben wir nach Dienstschluß, gegen 17.30 Uhr, unsere Schalter sofort geöffnet; am Sonnabend und Sonntag waren wir dienstbereit von 8.00 bis 22.00 Uhr. In dieser Zeit haben wir über 10.700 Auszahlungen mit einem Gegenwert von über 1 Mio DM vorgenommen. Außerdem stellten wir die Geldversorgung für die Stadt Duderstadt mit über 12 Mio DM auch mittels der LZB Göttingen sicher.
Bei diesem Kraftakt konnten wir eine hohe Motivation unserer Mitarbeiter feststellen, wobei wir uns […] über erhebliche Klippen in Bezug auf Transport- und Versicherungsfragen sowie Bestimmungen der UVV-Kassen hinwegsetzen mußten […] sowohl sämtliche Führungskräfte unseres Hauses als auch der Vorstand persönlich [haben sich] von morgens bis spät in die Nacht, einschließlich Abstimmung mit dem örtlichen Krisenstab, engagiert […] Kassierer wurden sogar mehrmals spät nach Mitternacht eingesetzt.
Mit freundlichen Grüßen
[…]
Im Vergleich zu westdeutschen Großstädten wird nicht ohne Stolz hervorgehoben, dass es weder stundenlange Wartezeiten noch erhebliche Liquiditätsengpässe in Duderstadt gab. Die verhältnismäßig kleine Sparkasse mit seinerzeit etwa 500 Mio. D-Mark Bilanzsumme habe, so das Fazit des Vorstands, „besondere Flexibilität an den Tag gelegt und unter Beweis gestellt“.
Den pragmatischen Umgang mit einer unvorhergesehenen „Marktlage“ honorierte auch die Deutsche Sparkassenzeitung. Am 24. November 1989 berichtete sie unter der Überschrift „Duderstadt bewältigte Ansturm“ von dem erfolgreich gemeisterten historischen Moment in einer Kleinstadt an der deutsch-deutschen Grenze.
Fortsetzung folgt am 25.11.2019
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*Betreffzeile des Schreibens vom 13.11.1989, das wir im Archiv haben; Bestand: Historisches Archiv des OSV, HA-Günther 2/2004.
** Auch zum 30. Jahrestag des Mauerfalls 2019 erinnert die Deutsche Sparkassenzeitung u. a. wieder an die Geschehnisse in Duderstadt.